
Thesenpapier Nationales Bildungsforum 2024
Welche Schulaufsicht benötigt das Land und die Schule? Vor dem Nationalen Bildungsforum 2024 fand ein Workshop mit ausgewählten Schulaufsichten statt. Im Anschluss daran begann das zweitägige Nationale Bildungsforum. Aus den Diskussionen konnten sechs Thesen und Empfehlungen abgeleitet werden, die Handlungsspielräume und ein zukünftiges Rollenverständnis für die Schulaufsicht aufzeigen. Wie also könnte ein zeitgemäßes System aus Aufsicht und Unterstützung aussehen – und welche Rolle hat darin die Schulaufsicht? Mit dieser Leitfrage sind wir in die Tagung eingestiegen und möchten mit dem Thesenpapier eine erste Antwort geben.
Welche Schulaufsicht braucht das Land und braucht die Schule?
Im Grundgesetz Artikel 7 Abs. 1 ist die Schulaufsicht des Staates festgeschrieben. Das 7. Nationale Bildungsforum beleuchtete die Umsetzung und Wirklichkeit dieser grundgesetzlichen Aufgabe näher. Die folgenden Thesen beschreiben Herausforderungen und skizzieren Handlungsempfehlungen für die Schulaufsicht und weitere Stakeholder im Bildungssystem.
Ausgangslage: Die Innensicht der Schulaufsicht
Das Spannungsfeld von rechtlicher Aufsicht und inhaltlicher Beratung, selbständiger Schule und diversem Mikromanagement prägt die Arbeit von Schulaufsichten. Ihre zentrale Aufgabe sehen sie in der Unterstützung der Schulen bei Unterrichts- und Organisationsentwicklung. Dazu kommen sie aber kaum. Ihr Arbeitsalltag ist vielmehr geprägt von einem breitgefächerten und diffusen Aufgabenspektrum, das sich in zahlreichen schulrechtlichen und bildungspolitischen Vorgaben, aber auch in vielschichtigen und z.T. kleinteiligen Erforderlichkeiten des Schulalltags begründet – vom Beschwerde- bis zum Personalmanagement, von Unterrichtsversorgung und Mangelverwaltung bis hin zum Schnittstellenmanagement von Schulträgern und diversen Akteuren im Umfeld der Schule. Immer mehr Aufgaben wurden und werden an die Schulaufsicht übertragen, ohne dass sich dies in der Personalentwicklung abbildet oder andere Aufgaben wegfielen. Kurz gesagt: Die Aufsichts- und Verwaltungsaufgaben fressen die Beratungsanteile. Datengestützte und nachhaltige Schulentwicklungsberatung kommt zu kurz. Schulaufsichten sehen sich als umsichtige Bildungsbroker der vielfältigen Umfeldakteure von Schule. Von außen betrachtet gleichen sie eher Tatortreinigern der Bildungspolitik.
6 Thesen zur Schulaufsicht – Problemlagen und Handlungsempfehlungen
- These 1: Schulaufsicht im Spannungsfeld zwischen Aufsicht und Beratung
Sowohl die Bildungspolitik bzw. die oberste Schulaufsicht bei den Kultusministerien als auch die Schulen setzen voraus, dass die Grundaufgabe der Schulaufsicht darin besteht, einen störungsfreien operativen Betrieb zu gewährleisten. Dazu muss sie in Zusammenarbeit mit den Schulleitungen klassisch regulierende und formale Aufgaben wahrnehmen. Zudem sind Ziel- und Leistungsvereinbarungen mit den Schulen aufzusetzen und auszuwerten. In den letzten Jahren sind zunehmend Aufgaben in der Unterrichts-, Schul- und Personalentwicklungsberatung hinzugekommen – entweder direkt durch die Schulaufsicht oder in deren Auftrag. Zusätzlich erschwerend wirkte dabei auch das Hinzutreten weiterer Akteure, teilweise ohne verlässliche Regelung der Arbeitsteilung. Rollenkonflikte aufgrund dieser unterschiedlichen Aufgaben gehören zum Berufsbild und müssen produktiv wahrgenommen und gestaltet werden. Seitens der Bildungspolitik ist das Feld der Schulaufsicht bisher unzureichend wahrgenommen worden, was sich auch daran zeigt, dass Ziel- und Aufgabenklärung fehlen, Prioritätensetzungen nicht vorliegen, Evaluationen nicht stattfinden und die Profession nicht ausreichend definiert ist.
Handlungsempfehlung: Aufgrund ihrer Steuerungsverantwortung muss die Bildungspolitik klare Ziele für die Schulaufsicht vorgeben und ihre Aufgaben priorisieren. Daran gekoppelt sind auch die Fragen der Qualitätssicherung und der Wirkungskontrolle zu entscheiden. Neben grundsätzlichen „Checks and Balances“ wären im Kontext systematischer Evaluationen Aufgabenprofil und -erfüllung, Personalausstattung und Wirksamkeit regelmäßig zu überprüfen und entsprechende Anpassungen vorzunehmen. Bildungspolitik und oberste Bildungsverwaltung müssen jetzt beginnen, gemeinsam mit der Schulaufsicht klare Leitbilder, Ziele und Standards zu verabreden. Hier liegt auch zwingend eine Aufgabe für die KMK, um grundlegende Standards zu definieren und länderübergreifende Zielvorgaben abzustimmen.
- These 2: Schulaufsicht als Akteur an den Schnittstellen
Neben der klassischen Schulaufsicht wurden in den letzten Jahren zusätzliche Akteure etabliert, wie z.B. für Schulevaluation oder Qualitätsentwicklung, ohne die Relation zur Schulaufsicht und die Aufgabenverteilung vorher immer klar bestimmt zu haben. In einigen Ländern gibt es auch – teilweise konfliktbeladene – Schnittmengen mit den Landesinstituten. Eine kohärente Governance für Schulentwicklung (auch durch die Schulaufsicht) ist nicht erkennbar. Die Einzelschule sieht sich zu vielen und teilweise unverbundenen Akteuren und Unterstützer*innen gegenüber. Eine Folge dieser Verantwortungsdiffusion ist, dass eine verlässliche Steuerung erschwert oder sogar verhindert wird, da die Schulen mit divergenten Erwartungen und Feedbacks konfrontiert sind. Für die Veränderungsprozesse fehlt so die nötige Klarheit.
Handlungsempfehlung: Die Länder müssen ein kohärentes Gesamtsystem entwickeln und damit die „Aufsichts-Landschaft“ strategisch neu ordnen und sinnvoll gestalten. Dazu bedarf es zunächst einer systemischen, empirisch gestützten Analyse der derzeitigen Organisationsstruktur. Dabei sind bestehende Aufgabenbereiche kritisch zu hinterfragen. Ziel muss sein, dass Schulaufsicht und Schulentwicklung nachhaltiger, stringenter und klarer für die Einzelschule organisiert sind. Insbesondere Schulen mit besonderem Beratungsbedarf dürfen nicht mehr im Dickicht der Zuständigkeiten untergehen. Es muss Prozess- und Verantwortungsklarheit geschaffen werden.
- These 3: Neues Berufsbild für die Schulaufsicht – Leading from the middle?
Schulaufsichten haben Führungsaufgaben. Damit einher geht nicht nur die eigene Professionalisierung für die entsprechende Aufgabenerfüllung, sondern auch ihre Beteiligung an der Gesamtsteuerung des Systems. Wenn Ministerien Schulaufsichten nur als nachgeordnete und damit weniger relevante Akteure im Gesamtsystem wahrnehmen, verschenkt man ihr Potential. Wenn sie als mittlere Führungsebene gesehen und verstanden werden, sind sie nicht nur wichtig für die Vermittlung und Umsetzung der bildungspolitischen Ziele in Richtung Schule, sondern verfügen auch über wertvolles (praxisnahes) Wissen für die Steuerung des Gesamtsystems. Dies sollte bei der Festlegung bildungspolitischer Ziele und Rahmensetzungen berücksichtigt werden. Eine Leitidee könnte das in anderen Ländern (insbes. Alberta, Kanada) erfolgreiche Modell des „Leading from the middle“ sein. Dort kommt der Schulaufsicht eine zentrale Steuerungsrolle zu, sowohl vertikal zwischen den Ebenen als auch horizontal in der Zusammenarbeit mit Unterstützungssystemen und Trägern.
Handlungsempfehlung: Schulaufsichten sollten ihre Führungsrolle handlungssicher und zeitgemäß gestalten können. Damit einher geht auch die verlässliche Übernahme von Verantwortung für Aufsicht und Beratung. Diese Selbstzuschreibung muss allerdings erst noch in dem beschriebenen Aushandlungsprozess mit der Bildungspolitik im Sinne eines (neuen) Berufsbildes näher definiert und im Gesamtsystem einer veränderten Governance anerkannt werden.
- These 4: Welche Qualifizierung braucht die Schulaufsicht?
In Deutschland gibt es bisher ein nur bedingt funktionales System der Rekrutierung. Für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Schulaufsichten fehlen grundsätzlich strukturierte Angebote. Zwar hängt die zukünftige Qualifizierung von Schulaufsicht von dem noch zu definierenden Berufsbild ab, aber schon heute sind viele Anforderungen erkennbar. Für die Funktion der Aufsicht sind u.a. wichtig: sicheres Verwaltungshandeln, einschließlich juristischem und finanztechnischem Wissen und Können, faires Personalmanagement, Kenntnis der bildungspolitischen Agenda und ein angemessenes Interventionsinstrumentarium. Eine zeitgemäße Beratung durch die Schulaufsicht muss folgendes gewährleisten: wissenschaftlich fundiertes Verständnis des Bildungssystems, Vertrautheit mit Verfahren der Leistungsmessung und Evaluation inklusive Data Literacy, Personalführung einschließlich Konfliktmoderation, Umgang mit Differenz und Heterogenität (Ambiguitätstoleranz) sowie Management der Perspektivenvielfalt – auch vor dem Hintergrund multiprofessioneller Akteure in den Regionen. Schulaufsicht ist als ein eigenständiges Berufsfeld zu verstehen und zu entwickeln.
Vor diesem Hintergrund sollte die Schulaufsicht künftig ihr Personal nicht wie bisher fast ausschließlich aus dem Bereich der Schulleitungen rekrutieren. Erfolgreiche Schulaufsicht gelingt nur unter starker Betonung der Kompetenzen, die auch außerhalb des schulischen Kontextes erworben werden. Mit dem Fehlen eines klar definierten eigenständigen Berufsbildes gehen das weitgehende Fehlen eines gründlichen Curriculums für eine umfassende Qualifikation und berufsbegleitende Fortbildungen einher.
Handlungsempfehlung: In der KMK-Gemeinschaft sind die Länder aufgefordert, das Berufsbild, aber auch Karrierewege gemäß bundesweiten Leitbildern und Zielstellungen zu definieren und eine umfassende und den Aufgaben entsprechende Qualifikation vor Antritt des Amtes verbindlich sicherzustellen; Weiterbildungsangebote sind verpflichtend zu machen. Schulaufsichten mit unterschiedlichen Kompetenzprofilen, d.h. nicht nur in der Schulleitung sozialisierte Teams, können helfen, die vielfältigen Aufgaben der Schulaufsicht von Konfliktmanagement und Rechtsfragen über Schul- und Unterrichtsentwicklung bis zu Personalangelegenheiten sachgerecht zu erledigen. Dafür sind in den Ländern u.a. Laufbahnverordnungen zu überarbeiten. Bundesweite Standards für Schulaufsichten bilden dafür die Grundlage. Aus- und Fortbildungen sollen länderübergreifend organisiert werden, auch weil die Zahl neu eintretender Schulaufsichtspersonen in vielen Ländern zu gering für eigene Qualifizierungsaktivitäten ist.
- These 5: Zukunftsgemäße Schulaufsicht
In Deutschland werden derzeit vereinzelt neue Ansätze in der Schulaufsicht erprobt: Abkehr von der schulformbezogenen Aufsicht, im sozialräumlichen Ansatz (alle Schulformen in einer Region arbeiten im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft zusammen) oder Arbeit mit Schulfamilien i.S.v. professionellen Lerngemeinschaften nach ausländischen Vorbildern (Kanada, Singapur). Diese – bisher nur zum Teil wissenschaftlich begleiteten – neuen Ansätze sollten bildungspolitisch wahrgenommen und bei der Reform der Schulaufsicht berücksichtigt werden. Das Startchancenprogramm gibt Anlass dazu, Schulaufsicht grundlegend zu überdenken und – sozialräumlich – neu aufzustellen. Die Trennung von inneren und äußeren Schulangelegenheiten erweist sich hier, wie auch schon bei anderen großen Herausforderungen (Digitalpakt, Gestaltung des Ganztags), als großes Hindernis und muss bei der Neuaufstellung überwunden werden. Im sozialräumlichen Ansatz hat die Schulaufsicht noch mehr Verantwortung für die Einbindung von Unterstützungssystemen und weiterer außerschulischer Partner. Eine rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit vieler Akteure erfordert noch einmal ein anderes Wissen und andere Kompetenzen von der Schulaufsicht.
Handlungsempfehlung: Bei der Neuaufstellung der Schulaufsicht sollten innovative und erfolgreiche Konzepte berücksichtigt werden, sofern sie über Fallstudien hinausgehen und skalierbar sind. Auf der Grundlage von Wirkungsmodellen sind dabei wissenschaftliche Evaluationen und Begleitforschung zwingend zu berücksichtigen. Sozialräumlich orientierte Ansätze mit Blick auf durchgängige Bildungsbiografien der Lernenden von der Kita bis in den Beruf erfordern womöglich gänzlich neue Governance-Strukturen. Denkverbote sollte es hier nicht geben.
- These 6: Schulaufsicht als Gegenstand der Bildungsforschung
Die Bildungswissenschaften widmen sich zu selten dem wichtigen Forschungsfeld Schulaufsicht. Es liegen im Vergleich zu anderen Themenfeldern wie z.B. Unterrichts- und Schulforschung verschwindend wenige Untersuchungen vor. Voraussetzung für Forschung zum Wirken von Schulaufsicht ist ein politisch gewährleisteter Zugang zu diesem Feld. Die Begleitforschung zum Startchancenprogramm könnte bereits erste Erkenntnisse bringen. Für die Steuerung des Gesamtsystems braucht es „Education Policy Research“.
Handlungsempfehlung: Das Leibniz Education Research Network (LERN) könnte beispielsweise gemeinsam mit der SWK das Feld der Education Policy Research beschreiben und erste Forschungsfragen abstimmen. Das BMBF könnte gebeten werden, in der nächsten Legislatur dazu eine Forschungsförderung aufzubauen. Mittelfristig könnten an einzelnen Universitäten dazu Professuren eingerichtet werden.
Thesenpapier Nationales Bildungsforum 2024
Jetzt herunterladenIhr Ansprechpartner

Als Strategieexperte und Moderator mit jahrzehntelanger Erfahrung führt Stephan Dorgerloh (er/ihm) Stiftungen wie Unternehmen durch komplexe Prozesse inhaltlichen und organisatorischen Wandels. Als früherer Kultusminister von Sachsen-Anhalt ist er erster Ansprechpartner für unsere Kernthemen Bildung und Demokratie, Kultur und Politik. 2018 gründete er das Nationale Bildungsforum, um dem Wissenstransfer aus Wissenschaft, Praxis und Politik eine jährliche Plattform zu geben.