Thesenpapier Nationales Bildungsforum 2023
Den Lehrkräftemangel als Chance nutzen — aber wie? Dem Nationalen Bildungforum 2023 wurde ein Workshop mit zwölf Schulleitungen vorangestellt. Aus den Diskussionen lassen sich neun Thesen ableiten. Sie offenbaren Chancen, wie der Lehrkräftemangel abgemildert und Schule gleichzeitig verändert werden kann.
Der Lehrkräftemangel als Chance
Der Mangel an Fachkräften stellt unsere Schulen vor massive Probleme. Er betrifft in unterschiedlicher Schärfe alle Bundesländer und Schulformen sowie die Mehrzahl der Fächer. Die Bildungspolitik hat reagiert: Tausende Seiteneinsteiger ohne pädagogische Ausbildung wurden rekrutiert, Ausbildungszeiten gekürzt, Unterrichtsdeputate erhöht und Lehrpläne ausgedünnt. Gleichzeitig wurden Anreize für den Beruf (höhere Bezüge, Ausweitung des Beamtenstatus) erhöht. Auch wenn diese Maßnahmen vor einiger Zeit noch schwer vorstellbar waren, reichen sie nicht aus. Weiterhin werden jedes Jahr tausende Lehrkräfte fehlen. Alle Verantwortlichen wissen das. Was nicht allen klar ist: In dieser Notlage stecken auch große Chancen.
Das 6. Nationale Bildungsforum hat diese Chancen ausgelotet. Können dringend nötige Reformen nun endlich einen Schub bekommen? Welche Denkverbote können wir uns angesichts der Krise nicht mehr leisten? Darüber haben Mitte September 80 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis, Politik und Verwaltung, von Stiftungen und Medien in der Lutherstadt Wittenberg diskutiert.
9 Thesen – 9 Chancen
- These 1: Die Arbeit in deutschen Schulen muss neu verteilt werden: flexibler, gerechter, stärker an den tatsächlichen Aufgaben orientiert. So braucht es feste Teamzeiten für die kollaborative Vorbereitung von Unterricht und Projekten oder die Zusammenarbeit mit anderen Professionen. Denn ohne mehr Kooperation lassen sich die heutigen Aufgaben von Schule nicht mehr bewältigen. Das heißt auch, pädagogische Arbeit ist vielfältig, nicht alle Lehrkräfte sollten die gleiche Stundenzahl unterrichten müssen: das starre deutsche Deputatsmodell ist in der heutigen Form nicht zukunftsfähig.
- These 2: Schülerinnen und Schüler brauchen vielfältigere Lernzeiten. Schule ist nicht per se dann gut, wenn vor jeder Klasse ein Lehrer steht. Mehr Projekt- und Gruppenarbeiten, Deeper Learning, fächerübergreifendes Lernen – auch an außerschulischen Lernorten – unterstützen den Weg von der lehrerzentrierten Schule hin zu neuen Lernformen, bei denen die Lernenden im Vordergrund stehen. Bei der Flexibilisierung der Lehrpläne oder der Reduzierung der Stundentafel sollte es keine Denkverbote geben.
- These 3: Die Digitalisierung bietet bei der Flexibilisierung der Lehr- und Lernzeiten große Chancen, sowohl für das Selbstlernen der Schülerinnen und Schüler als auch für kooperative Lernformen. Erprobte Konzepte wie Flipped Classroom u.a. stehen schon jetzt zur Verfügung. Zukünftig könnten auch KI-gestütztes Assessment Lehrkräfte bei der individuellen Lernbegleitung und der (stärker formativen) Leistungsrückmeldung entlasten. Bildungswissenschaften und -verwaltung sollten diese gemeinsam mit der Praxis entwickeln und implementieren.
- These 4: Lehrkräfte brauchen mehr Zeit für ihre pädagogische Kernkompetenz, d.h. fürs Unterrichten, um Schüler und Schülerinnen auf die Welt von morgen vorzubereiten. Das geht nur mit einer neuen professionellen Vielfalt. Schulen benötigen sowohl weiteres pädagogisches Personal, das beim Lehren, Lernen und Wellbeing in Schule hilft (Sozialarbeiter, Psychologen, Gesundheitsfachkräfte) wie auch Profis für das moderne Management (Schulverwaltungsassistenten, IT Fachkräften, Laboranten). Die Arbeit in solchen multiprofessionellen Teams wird die Attraktivität des Arbeitsplatzes Schule erhöhen.
- These 5: Quer- und Seiteneinsteiger sind ein Gewinn, da sie neue Erfahrungen in die Kollegien bringen. Zugewanderte Lehrkräfte wiederum können helfen, die Herausforderungen durch die zunehmende migrantische Vielfalt der Schülerschaft zu meistern. Beiden Gruppen muss es leichter gemacht werden, in der Schule anzukommen: durch eine gute Vorbereitung und Begleitung sowie durch agilere Einstellungsverfahren und Reduzierung von Hürden (Ein-Fach-Lehrer).
- These 6: Die Schulen müssen enger mit anderen Lernorten zusammenarbeiten. Schülerlabore, Maker Spaces, Vereine, Bibliotheken, Museen, Betriebe etc. können ergänzen, bereichern und entlasten – nicht nur im bloßen Nebeneinander, sondern systemisch integriert in den Schulalttag und lehrplanrelevant. Die logische Andockstelle für außerschulische Partner ist der Ganztag. Dieser muss dann wirklich als Ganzes gedacht und organisiert werden.
- These 7: Schulen brauchen mehr Freiheit, um mit dem Lehrkräftemangel individuell umzugehen, in der Krise Chancen zu entdecken und Neues auszuprobieren. Schulleitungen sollten, wo möglich, mehr Freiheit und Kompetenzen bei der Auswahl und der Führung des Personals haben (Dienstherreneigenschaft), sie sollten über eigene Personaletats sowie über pauschal zugewiesene Sachkostenbudgets verfügen. Gleichzeitig müssen sie auf diese erweiterten Führungsaufgaben besser vorbereitet werden als heute.
- These 8: Es braucht eine bessere Kooperation zwischen Schulen, Schulverwaltung und Schulträgern im Sinne eines lernenden Systems. Die hinderliche Zweiteilung der Personalverantwortlichkeit – des Landes für die Lehrkräfte und Inhalte, der Schulträger für das gesamte andere Personal und die sächliche Ausstattung – gehört auf den Prüfstand. Auch muss das Verhältnis von Aufsicht- und Unterstützungsstrukturen anders austariert werden. Eine zentrale, aber bislang völlig unterschätze Rolle muss dabei eine zeitgemäße serviceorientierte und qualitätssichernde Schulaufsicht spielen.
- These 9: Ungleiches muss ungleich behandelt werden, denn Schulen haben je nach Schülerschaft grundlegend unterschiedliche Herausforderungen. Gerade mit Blick auf den Lehrkräftemangel verdienen soziale und regionale Ungleichheiten (Stadt-Land, Ost-West) eine viel stärkere Beachtung, ebenso die Unterschiede zwischen Schulformen. Es ist nicht nur ungerecht, sondern für den sozialen Zusammenhalt gefährlich, wenn Gymnasien in bürgerlichen Viertel deutlich besser versorgt sind als Sekundarschulen in strukturschwachen Räumen. Hier braucht es deutlich größere Anreize für die Lehrkräftegewinnung (geringere Klassengrößen und Unterrichtsverpflichtungen) und eine substanzielle Mittelverteilung nach Sozialindikatoren in allen Bundesländern.
Was jetzt passieren muss
Der Lehrkräftemangel wird den deutschen Schulalltag noch mindestens zehn Jahre lang belasten. Die für Schule Verantwortlichen sollten sich nicht damit begnügen, kurzfristig Löcher zu stopfen, sondern mit Mut und Fantasie die Chancen für Reformen ergreifen, damit die Qualität im Schulsystem steigt. Um die obigen Ideen zu testen, sollte die Politik vermehrt Modellversuche mit wissenschaftlicher Begleitung zulassen.
Es ist möglich, dass am Ende der Personalkrise die Schule eine andere ist. Sie könnte selbstständiger und kooperativer sein, unbürokratischer und (multi-)professioneller, eine Gemeinschaft, in der neue Formate des Lehrens und Lernen zum Unterrichtsalltag gehören, die Qualität steigt und Bildungsungerechtigkeiten verringert werden.
Thesenpapier Nationales Bildungsforum 2023
Jetzt herunterladenIhr Ansprechpartner
Als Strategieexperte und Moderator mit jahrzehntelanger Erfahrung führt Stephan Dorgerloh (er/ihm) Stiftungen wie Unternehmen durch komplexe Prozesse inhaltlichen und organisatorischen Wandels. Als früherer Kultusminister von Sachsen-Anhalt ist er erster Ansprechpartner für unsere Kernthemen Bildung und Demokratie, Kultur und Politik. 2018 gründete er das Nationale Bildungsforum, um dem Wissenstransfer aus Wissenschaft, Praxis und Politik eine jährliche Plattform zu geben.